Schmerztherapeuten begründen die hartnäckige Schmerpersistenz nach eingetretener Chronifizierung mit der Entstehung eines Schmerzgedächtnisses. Neurophysiologisch gesehen ist das Schmerzgedächtnis die Folge von Neuroplatizität, die Fähigkeit des zentralen Nervensystems, sich im Rahmen von Lernprozessen funktionell und mikrostrukturell zu verändern und anzupassen. Neuroplastische Vorgänge gereichen uns zum Vorteil, wenn es darum geht, wiederholte Erfahrungen zu lernen und immer besser und schneller zu können. Jeder kennt die Beispiele des Geigenspielers, dessen Gehirnrepräsentanz für Geigespielen mit zunehmender Expertise zunimmt und im fMRT immer größere Felder "zum Leuchten" bringt. Es gibt aber auch neuroplastische Vorgänge, die zu unserem Nachteil verlaufen, -maladaptive Neuroplastizität. Das Schmerzgedächtnis ist eine solche durch Neuroplastizität entstandene Fehlkonstruktion.
Die Schmerzmedizin führt bislang das Schmerzgedächtnis argumentativ an, wenn eine Erklärung dafür gegeben werden soll, daß erklärtes Ziel der Behandlung chronischer Schmerzen nicht "Wegmachen", sondern Linderung und Erhöhung der Lebensqualität ist bzw. wenn die Compliance des Patienten gestärkt werden soll, um nicht weitere Chronifizierung (und damit das Fortschreiten neuroplastischer Veränderungen) heraufzubeschwören.
Bislang gab es aber kein Konzept, das Schmerzgedächtnis zu verändern. Es fehlte ein kausales Behandlungskonzept für chronischen Schmerz. Das hat sich geändert durch die Einführung der modernen nichtinvasiven Neuromodulationsverfahren, die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) und die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS=transcranial direct current stimulation). Während die rTMS in der schmerztherapeutischen Praxis schwerpunktmäßig bei somatisierter Angst und Depression eingesetzt wird, zeichnet sich für die tDCS eine immer breitere Anwendung ab. Wurden bislang hauptsächlich Patienten mit Migräne und Fibromyalgie damit behandelt, rückt nunmehr das eigenständige Krankheitsbild der "chronischen Schmerzkrankheit" immer mehr in das Zentrum der Behandlungsindikationen.
Wie läuft so eine Behandlung praktisch ab?
Bei der transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) läßt sich über flüssigkeitsbenetzte Oberflächenelektroden (35 Quadratzentimeter) bei einer Stromstärke bis zu 2 mA intrakraniell ein ausreichender Stromfluss erzielen, um Verschiebungen der Erregbarkeitsschwellen zu bewirken. Er noch unterschwellig und vermag noch keine neuronalen Aktionspotentiale auszulösen. Wahrgenommen wird allenfalls ein leichtes Prickel der Kopfhaut. Grundlegender Wirkmechanismus der tDCS ist eine Ruhemembranpotenzialverschiebung kortikaler Neurone, je nach Stimulationspolarität in hyper- oder depolarisierender Richtung. Dadurch wiederum verändert sich das Entladungsverhalten: durch anodale Reizung wird die kortikale Exzitabilität erhöht, durch kathodale vermindert. Bei täglich zwanzigminütiger Stimulationsdauer über wenigstens 5 Tage halten diese Veränderungen längere Zeit an, was dahingehend interpretiert werden kann, daß die aus dem Schmerzgedächtnis stammenden Wahrnehmungsanteile verblassen. Eingebettet in ein multimodales Behandlungsprinzip, das erneute Chronifizierungen verhindern hilft, lassen sich die Behandlungserfolge dadurch nachhaltig positiv beeinflussen. Wenn auch nicht alle Details dieses neuen Verfahrens geklärt sind, so läßt sich doch mit Sicherheit feststellen, daß die transkranielle Stimulation mit schwachem Gleichstrom ein einfaches Verfahren zur Erzeugung von Neuroplastizität darstellt. Sie ermöglicht die noninvasive, schmerzfreie, fokale, selektive und reversible Veränderungen kortikalen Erregbarkeitsschwellen, wobei Dauer und Stärke modulierbar sind. Dr.med.Dipl.Biol. Peter Tamme www.die-schmerzpraxis.de